Holocaust-Erziehung in Österreich

Lehren mit den Lebensgeschichten von Zeitzeugen

Von Moritz Wein

Eine öffentlich zugängliche Datenbank mit Videointerviews mit Opfern des Nationalsozialismus - www.weitererzaehlen.at

© ERINNERN.AT

"Die österreichischen Regierungsleute haben seit dem Zweiten Weltkrieg großspurig behauptet, das erste eroberte Land [durch Nazi-Deutschland] zu sein. Das ist nicht wahr. Sie waren sehr stark in einem 'Nimm mich, ich gehöre dir!' Modus. Ich kann mich an eine Menge böser Dinge vor dem ["Anschluss"] erinnern ... wissen Sie ..."

Mit diesem offensichtlich frustrierten Hinweis auf Österreich begann Felix Brown, ein in Wien geborener Holocaust-Überlebender, 1989 ein Fernsehinterview in Buffalo, New York. Er schilderte seine Erfahrungen mit dem Antisemitismus in Österreich, die Ermordung seiner Familienmitglieder während des Holocaust und seine Flucht nach Großbritannien und später in die USA. Zu dieser Zeit, in den späten 1980er Jahren, diskutierte die österreichische Gesellschaft heftig über ihre nationalsozialistische Vergangenheit und ihre aktive Rolle im Holocaust: Die so genannte Opfertheorie, die behauptete, Österreich sei das erste Opfer von Nazi-Deutschland gewesen, leugnete die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis und für den Holocaust und versuchte, Österreich international als Land ohne belastende Vergangenheit darzustellen. Nach der Waldheim-Debatte wurde diese Theorie stark in Frage gestellt und die österreichische Gesellschaft begann, Aspekte ihrer Darstellung und Identität zu ändern. Österreich bekannte sich öffentlich zu seiner Verantwortung für den Holocaust und gründete Institutionen zur Erinnerung und Aufklärung über den Holocaust. Begleitet wurde dieser Prozess von den lauten Stimmen der Überlebenden des Holocausts in der ganzen Welt, für die Mr. Brown in Buffalo, New York, ein eindrucksvolles Beispiel ist. Heute gibt es nur noch wenige Österreicher, die die Opfertheorie unterstützen und verteidigen.

Im Rahmen der neuen österreichischen Vergangenheitsbewältigung und nach einem Memorandum of Understanding zwischen den Staaten Israel und Österreich wurde vor 20 Jahren _erinnern.at_, das Holocaust Education Institute des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, gegründet. Seither unterstützt _erinnern.at_ Pädagoginnen und Pädagogen in allen neun österreichischen Bundesländern bei der Vermittlung von Wissen über den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie bei der Prävention von Antisemitismus und Rassismus durch Bildung. Der Fokus liegt dabei auf der Ermöglichung von Besuchen von Holocaust-Überlebenden im Klassenzimmer, der Entwicklung von digitalen Unterrichtsmaterialien und dem Angebot von LehrerInnenfortbildungen.

Im Zentrum der Arbeit des Instituts steht die pädagogische Nutzung von Zeitzeugenberichten von Opfern des Nationalsozialismus. Durch Schulgespräche mit Zeitzeugen, Unterrichtsmaterialien mit Lebensgeschichten von Überlebenden oder durch aufgezeichnete und digitalisierte Zeitzeugeninterviews begegnen SchülerInnen den in Österreich lange Zeit vernachlässigten Geschichten von Opfern des Nationalsozialismus, wie z.B. der Geschichte von Herrn Braun. Erfreulicherweise gibt es derzeit noch 14 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die regelmäßig österreichische Schulen besuchen. Im Jahr 2019 sprachen sie an 178 Schulen und erreichten 7.698 SchülerInnen. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde das Zeitzeugenprogramm ab März 2020 ausgesetzt; dennoch wird es bald möglich sein, SchülerInnen und ZeitzeugInnen über Online-Tools zu verbinden.

Digitaler Speicher

Um die Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden und anderen Opfern des Nationalsozialismus zu bewahren und für SchülerInnen und die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, engagiert sich _erinnern.at_ seit mehr als 15 Jahren dafür, die auf Video aufgezeichneten Zeugnisse von Opfern des Nationalsozialismus zu digitalisieren und gemeinsam mit Unterrichtsmaterialien für Schulen zugänglich zu machen. Im Jahr 2018 startete _erinnern.at_ eine einzigartige Aktion, um alle Video-Interviews mit Opfern des Nationalsozialismus mit Bezug zu Österreich zu sammeln und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit Hilfe von Partnerinstitutionen auf der ganzen Welt, in den USA namentlich der USC Shoah Foundation, dem U.S. Holocaust Memorial Museum und dem Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University, startete das Holocaust Education Institute die Website weitererzaehlen.at. Heute sind fast 200 Videointerviews mit Opfern des Nationalsozialismus online. Die Videos sind frei zugänglich und vollständig mit Schlagwörtern versehen, so dass LehrerInnen und SchülerInnen die Datenbank nach ihren Interessen durchsuchen und Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden aus ihrer Umgebung finden können. Eine weitere wichtige Initiative ist eine Zusammenarbeit mit dem USC Shoah Foundation Institute zur Entwicklung einer deutschen Landing Page auf der Lernplattform I Witness des Instituts .

Felix Browns Interview ist auch auf weiterzaehlen.at zu sehen, ein starkes Symbol dafür, dass Österreich sich verändert hat - es vertuscht seine Vergangenheit nicht mehr. Österreich will sich seiner gewalttätigen Vergangenheit stellen und SchülerInnen wollen von Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden lernen. Derzeit gibt es auf der Website 20 Videointerviews mit Überlebenden aus den USA. Die meisten von ihnen wurden in Österreich geboren und mussten vor antisemitischer Verfolgung fliehen oder sind nach dem Holocaust in die USA geflüchtet.

Es ist etwas Besonderes, ein Interview online zu stellen, das 2007 in West Palm Beach, Florida, mit Alfred Seiler gefilmt wurde. Seiler wurde in einer jüdischen Familie in Wien geboren und ist einer von nur 17 Überlebenden des wenig bekannten Vernichtungslagers Maly Trostenets. Insgesamt wurden 9.735 österreichische Juden nach Maly Trostenets, südlich von Minsk, Weißrussland, deportiert und die meisten von ihnen kurz nach ihrer Ankunft ermordet. Nach Auschwitz ist Maly Trostenets der Ort, an den die meisten österreichischen Juden deportiert wurden. Wahrscheinlich, weil es nur 17 Überlebende gab, wurde seine Geschichte von der österreichischen Öffentlichkeit lange Zeit vernachlässigt; auch, weil die Stimmen der Überlebenden in der österreichischen Gesellschaft lange Zeit nicht gehört wurden - kurz nach der Befreiung von Minsk, im Juli 1944, veröffentlichte die wichtigste deutschsprachige jüdische Exilzeitung, Aufbau (New York), einen Bericht über die Schrecken von Maly Trostenets.

Die Aussage von Alfred Seiler ist ein wichtiges historisches Dokument, da kein anderes Videointerview eines Überlebenden dieser Vernichtungsstätte bekannt ist. Er beschreibt die unmenschlichen Lebensbedingungen, die ständige Angst vor dem Tod und die Morde, deren Zeuge er war. Seiler konnte mit seiner Familie kurz vor der Befreiung des Lagers entkommen, wurde aber gleich nach seiner Flucht in einem sowjetischen Gulag interniert. Erst 1948 kehrte er nach Wien zurück und übersiedelte später in die USA. Dort arbeitete er in der Modebranche und setzte sich später in Florida zur Ruhe, wo er 2007 von Andreas Gruber und Robert Marchl interviewt wurde und kurz darauf starb.

Die Lebensgeschichten von Amerikanern wie Felix Brown und Alfred Seiler sind nur zwei sehr unterschiedliche Lebensgeschichten der 30.000 Österreicher, die nach 1938 vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die USA flohen. Mit weiterzaehlen.at werden diese Geschichten zurück nach Österreich gebracht, SchülerInnen lernen die Geschichte ihres Landes durch die Geschichten der Flüchtlinge, die in die USA geflohen sind. _erinnern.at_ baut seine Sammlung von Zeitzeugenberichten ständig aus und ist daran interessiert, weitere Videointerviews mit Opfern des Nationalsozialismus mit österreichischem Hintergrund aufzunehmen.

Ein starker pädagogischer Fokus auf die Lebensgeschichten der Opfer des Nationalsozialismus hat viele Vorteile. Die SchülerInnen sind sehr interessiert an ihren Geschichten, sie wollen mehr über die Biografien und den historischen Kontext erfahren. In Österreich, einem Land, das für die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Holocaust verantwortlich war, müssen LehrerInnen mit den SchülerInnen die Frage der Verantwortung diskutieren: Wer war für die Vertreibung von Felix Brown aus Wien verantwortlich? Wer hat Alfred Seiler nach Maly Trostenets deportiert? Diese Fragen der Verantwortung führen zu Diskussionen unter den Schülerinnen und Schülern und zeigen schnell, dass viele lokale Akteure an diesen Verbrechen beteiligt waren.

Während sie anhand der Lebensgeschichten von Überlebenden etwas über den Holocaust lernen, stehen SchülerInnen in Österreich und den USA vor derselben Frage: Welche Bedeutung hat diese Geschichte für mich und für uns heute? Eine Frage, die nur SchülerInnen für sich selbst und vielleicht im Dialog mit Gleichaltrigen jenseits des Atlantiks beantworten können.

Moritz Wein ist stellvertretender Direktor von _erinnern.at_, dem Holocaust Education Institute des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Kontakt für die Zusammenarbeit in Bezug auf Videobeweise von Opfern des Nationalsozialismus: office@erinnern.at

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